May 3rd, 2024
Witten, Wittener Kammermusiktage, Arditti @ Witten Unfinished Circles
Finished 2024String Quartet
duration: 40'
"Ein standesgemäßes Geburtstagsgeschenk" (FAZ)
For Arditti Quartets 50th anniversary
Music: Hannes Seidl
Scenography: Elisa Limberg
Light: Jörg Schuchardt
Der Regisseur David Cronenberg hat einmal sinngemäß gesagt, eine Idee sei wie ein Virus: einmal in der Welt, breite sie sich unaufhaltsam aus. Cronenberg hat diesen Gedanken wörtlich genommen und 1975 Shivers gedreht. Einen Film, in dem ein schleimiger Parasit nach und nach alle Menschen eines abgeschiedenen Hotels befällt, ihnen alle Hemmungen hinsichtlich ihrer sexuellen Bedürfnisse nimmt und sie übereinander herfallen – eine fleischgewordene Horrorversion der Idee der freien Liebe.
Zu der Zeit als der Film gedreht wurde, gab es kaum noch Komponist*innen, die radikal seriell komponierten, nachdem in den 1950er-Jahren diese revolutionäre Idee zunächst alles umzuwälzen schien. Denn auch der Serialismus war zunächst ein Akt der Befreiung, die Emanzipation aller Parameter von Abhängigkeiten durch das hierarchische, tonale System wie auch durch willkürliche, subjektive Entscheidungen. Je weniger aber die Klänge aufeinander Bezug nehmen, desto vereinzelter werden sie und so klingt auch die Musik. Diese Vereinzelung führte – sicher nicht beabsichtigt – auch zu einer gewissen Einsamkeit. Einer der wenigen, den die Idee einer präkompositorischen Strukturierung des Materials sowohl im Hinblick auf das Detail als auch auf die Großform bis zum Ende seines Lebens beschäftigte, war Karlheinz Stockhausen. Er versuchte diesen Zustand des Nebeneinanders in verschiedenen Stücken zu überwinden. Es ist jedoch bezeichnend, dass er in seinem einzigen Streichquartett, vier Musiker in vier verschiedenen Helikoptern spielen ließ. Als das Helikopter-Streichquartett am 26. Juni 1995 in Amsterdam mit dem Arditti Quartet realisiert wurde, konnten sich die Musiker nicht hören, sondern waren nur über einen Timecode synchronisiert. Allein das Publikum konnte das Ergebnis ihres Musizierens erfahren. In seinem Buch Collaborations beschreibt Irvine Arditti eine von Stockhausen mündlich übermittelte Idee zu einem zweiten Streichquartett, das nie realisiert wurde. Die vier Musiker des Quartetts sollten auch hier voneinander isoliert agieren, diesmal in Vitrinen in einem Museumsraum, in dem das Publikum um sie herumlaufen und sie betrachten kann: »The glass is magnified so that each player and his instrument can be observed in the greatest detail. The work should be performed several times daily, forever …«
Es ist bestimmt Zufall, aber ebenfalls 1975, dem Jahr in dem Shivers erschien, starteten die Chicago Boys in Chile das weltweit erste Experiment einer neoliberalen Gesellschaftsordnung. Alles sollte privatisiert und dereguliert werden, während der Staat so wenig Aufgaben wie möglich übernahm. Jede*r war für sich selbst verantwortlich. Es ist mir bis heute nicht ganz klar, wieso diese Idee sich in den 1990er-Jahren so rasant ausbreiten konnte, bis hin zu einer Verschiebung eines »New Labor«, also einer vormals linken Partei, die die Idee der individuellen Selbstverantwortung in ihr Programm aufgenommen hat – nicht ohne Grund hat Margaret Thatcher Tony Blairs Politik als ihren größten Erfolg bezeichnet. Selbstvermarktung, Eigenverantwortung und Individualismus haben sich in den letzten Jahrzehnten so grundlegend durchgesetzt, dass das Virus bis tief in die Psyche der heute jungen Erwachsenen eingedrungen ist. Die Idee von Solidarität auch über Interessens- und Leidensgemeinschaften hinweg, einer Gleichheit jenseits aller Unterschiede scheint – allen kollaborativen Arbeiten in der Kunstwelt zum trotz (oder sind sie eine Gegenreaktion?) – verschüttet gegangen zu sein und muss erst neu erarbeitet werden. Genau darum geht es in dem Stück Unfinished Circles. Der Museumsraum aus Stockhausens Skizze ist einer Drehbühne gewichen: Die vier Musiker des Arditti Quartet befinden sich in vier Plexiglasvitrinen und werden dem Publikum wie auf einem Präsentierteller vorgeführt, einer nach dem anderen. Sie können einander hören, sind aber weder visuell noch über einen Clicktrack oder ähnliches miteinander synchronisiert. Die sich daraus ergebenden Freiheiten individueller Tempi, die Freiheit für uns Hörende, Lautstärken unabhängig von ihrer Erzeugung neu zu regeln, stehen dem Bedürfnis gegenüber, sich zu verbinden, zusammen zu spielen – gemeinsam zu musizieren, nicht nur gleichzeitig. Das Stück dreht sich im wahrsten Sinne des Wortes dabei um die Frage, wie sich die Idee einer Emanzipation als Projekt individueller Freiheit denken lässt, ohne die Idee einer Gemeinschaft aufgeben zu müssen. Denn wenn eine Idee wie ein Virus ist, kann sie auch mutieren.
Das Stück ist für das Arditti-Quartett anlässlich ihres 50 jährigen Bestehen geschrieben, denen mein erster Dank gilt, das Stück so gewissenhaft begleitet zu haben. Mein Dank gilt auch Patrick Hahn für die Anregung, dieses Stück zu schreiben und Elisa Limberg für die wunderschönen Vitrinen. Ganz herzlichen Dank auch an Diego Ramos Rodriguez und meinen Bruder Niklas für ihre Hilfe.
For Arditti Quartets 50th anniversary
Music: Hannes Seidl
Scenography: Elisa Limberg
Light: Jörg Schuchardt
Der Regisseur David Cronenberg hat einmal sinngemäß gesagt, eine Idee sei wie ein Virus: einmal in der Welt, breite sie sich unaufhaltsam aus. Cronenberg hat diesen Gedanken wörtlich genommen und 1975 Shivers gedreht. Einen Film, in dem ein schleimiger Parasit nach und nach alle Menschen eines abgeschiedenen Hotels befällt, ihnen alle Hemmungen hinsichtlich ihrer sexuellen Bedürfnisse nimmt und sie übereinander herfallen – eine fleischgewordene Horrorversion der Idee der freien Liebe.
Zu der Zeit als der Film gedreht wurde, gab es kaum noch Komponist*innen, die radikal seriell komponierten, nachdem in den 1950er-Jahren diese revolutionäre Idee zunächst alles umzuwälzen schien. Denn auch der Serialismus war zunächst ein Akt der Befreiung, die Emanzipation aller Parameter von Abhängigkeiten durch das hierarchische, tonale System wie auch durch willkürliche, subjektive Entscheidungen. Je weniger aber die Klänge aufeinander Bezug nehmen, desto vereinzelter werden sie und so klingt auch die Musik. Diese Vereinzelung führte – sicher nicht beabsichtigt – auch zu einer gewissen Einsamkeit. Einer der wenigen, den die Idee einer präkompositorischen Strukturierung des Materials sowohl im Hinblick auf das Detail als auch auf die Großform bis zum Ende seines Lebens beschäftigte, war Karlheinz Stockhausen. Er versuchte diesen Zustand des Nebeneinanders in verschiedenen Stücken zu überwinden. Es ist jedoch bezeichnend, dass er in seinem einzigen Streichquartett, vier Musiker in vier verschiedenen Helikoptern spielen ließ. Als das Helikopter-Streichquartett am 26. Juni 1995 in Amsterdam mit dem Arditti Quartet realisiert wurde, konnten sich die Musiker nicht hören, sondern waren nur über einen Timecode synchronisiert. Allein das Publikum konnte das Ergebnis ihres Musizierens erfahren. In seinem Buch Collaborations beschreibt Irvine Arditti eine von Stockhausen mündlich übermittelte Idee zu einem zweiten Streichquartett, das nie realisiert wurde. Die vier Musiker des Quartetts sollten auch hier voneinander isoliert agieren, diesmal in Vitrinen in einem Museumsraum, in dem das Publikum um sie herumlaufen und sie betrachten kann: »The glass is magnified so that each player and his instrument can be observed in the greatest detail. The work should be performed several times daily, forever …«
Es ist bestimmt Zufall, aber ebenfalls 1975, dem Jahr in dem Shivers erschien, starteten die Chicago Boys in Chile das weltweit erste Experiment einer neoliberalen Gesellschaftsordnung. Alles sollte privatisiert und dereguliert werden, während der Staat so wenig Aufgaben wie möglich übernahm. Jede*r war für sich selbst verantwortlich. Es ist mir bis heute nicht ganz klar, wieso diese Idee sich in den 1990er-Jahren so rasant ausbreiten konnte, bis hin zu einer Verschiebung eines »New Labor«, also einer vormals linken Partei, die die Idee der individuellen Selbstverantwortung in ihr Programm aufgenommen hat – nicht ohne Grund hat Margaret Thatcher Tony Blairs Politik als ihren größten Erfolg bezeichnet. Selbstvermarktung, Eigenverantwortung und Individualismus haben sich in den letzten Jahrzehnten so grundlegend durchgesetzt, dass das Virus bis tief in die Psyche der heute jungen Erwachsenen eingedrungen ist. Die Idee von Solidarität auch über Interessens- und Leidensgemeinschaften hinweg, einer Gleichheit jenseits aller Unterschiede scheint – allen kollaborativen Arbeiten in der Kunstwelt zum trotz (oder sind sie eine Gegenreaktion?) – verschüttet gegangen zu sein und muss erst neu erarbeitet werden. Genau darum geht es in dem Stück Unfinished Circles. Der Museumsraum aus Stockhausens Skizze ist einer Drehbühne gewichen: Die vier Musiker des Arditti Quartet befinden sich in vier Plexiglasvitrinen und werden dem Publikum wie auf einem Präsentierteller vorgeführt, einer nach dem anderen. Sie können einander hören, sind aber weder visuell noch über einen Clicktrack oder ähnliches miteinander synchronisiert. Die sich daraus ergebenden Freiheiten individueller Tempi, die Freiheit für uns Hörende, Lautstärken unabhängig von ihrer Erzeugung neu zu regeln, stehen dem Bedürfnis gegenüber, sich zu verbinden, zusammen zu spielen – gemeinsam zu musizieren, nicht nur gleichzeitig. Das Stück dreht sich im wahrsten Sinne des Wortes dabei um die Frage, wie sich die Idee einer Emanzipation als Projekt individueller Freiheit denken lässt, ohne die Idee einer Gemeinschaft aufgeben zu müssen. Denn wenn eine Idee wie ein Virus ist, kann sie auch mutieren.
Das Stück ist für das Arditti-Quartett anlässlich ihres 50 jährigen Bestehen geschrieben, denen mein erster Dank gilt, das Stück so gewissenhaft begleitet zu haben. Mein Dank gilt auch Patrick Hahn für die Anregung, dieses Stück zu schreiben und Elisa Limberg für die wunderschönen Vitrinen. Ganz herzlichen Dank auch an Diego Ramos Rodriguez und meinen Bruder Niklas für ihre Hilfe.
Past Performances:
Media:
Excerpt 1 of the premiere recording of "Unfinished Circles"
Hannes Seidl, Arditti Quartet, Elisa Limberg, Jörg Schuchardt
Excerpt 2 of the premiere recording of "Unfinished Circles"
Hannes Seidl, Arditti Quartet, Elisa Limberg, Jörg Schuchardt
Excerpt 3 of the premiere recording of "Unfinished Circles"
Hannes Seidl, Arditti Quartet, Elisa Limberg, Jörg Schuchardt
© WDR Claus Langer