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Das Schöne am MP3-Algorithmus ist bekanntlich, dass er die Datenmenge einer Klangaufzeichnung drastisch reduziert, während er die Qualität der Aufnahme nur geringfügig vermindert. Die Ökonomie der Daten hat diesem Algorithmus zu seinem enormen Erfolg verholfen; wenn wir heute Musik hören, dann wurde diese Musik oft bereits um einen für entbehrlichen gehaltenen Anteil bereinigt. Fast 90% der Daten werden dabei eingespart. Die verbleibenden 10% sind hinreichend, um einen meist befriedigenden Klangeindruck zu vermitteln. Wie aber, fragte sich Hannes Seidl, klingen jene 90%, die eliminiert wurden? Was meinen wir beim Hören von Musik nicht mehr zu benötigen? Seidls Aufenthalt im Freiburger Experimentalstudio diente in erster Linie der Entwicklung eines Filters, der eben jene 10% ausblendet, die als Essentiell gelten, und jenen vernachlässigten Rest zu Gehör bringt. Dieses Interesse am Ungehörten bzw. nicht Wahrzunehmenden ist ein Ursprungsimpuls für das Orchesterstück Mehr als die Hälfte gewesen. Tatsächlich klingt nach einigen Minuten das, was das Orchester zuvor gespielt hat, in einer um alle Pausen bereinigten Version als ein solch invertiertes MP3. Nun wäre das eine schöne Idee und ein hörenswertes Experiment, wenn nicht Seidl hinter dem Algorithmus des zu vernachlässigenden Rests ein Prinzip erkannt hätte, die sich auch auf anderen Ebenen nachvollziehen lässt. Mehr als die Hälfte – das ist bekanntlich ein demokratisches Grundprinzip. Entscheidungen werden aufgrund von Mehrheiten getroffen. Auf einer anderen Klangebene des Stücks lässt Seidl deshalb Menschenmengen anwachsen. Sind eingangs also noch „harmlose Ansammlungen von Menschen im Café“ (Seidl) zu hören, schwillt die Menschenmenge in den folgenden Beispielen deutlich an – über die New Yorker Occupy-Bewegung bis hin zu lautstarken Demonstrationen in Athen und Madrid als eine, um es einmal ein wenig plakativ zusammenfassen, aus den politischen Prozessen herausgerechneten Menge.
Was hat das nun mit einem Sinfonieorchester zu tun? „Das Orchester“, schreibt Seidl, „ist ein Apparat, der einen extremen Überschuss produziert; an Ausdruck, an Klang und an Verweiskraft.“ Auch hier also sind Klanginformationen vorhanden, die über die vermeintliche Essenz der Musik hinausgehen, die allerdings nicht herausgerechnet worden sind, sondern als Residuen von Tradition im Werk mitschwingen. Der Komponist muss sich mit diesem Überschuss arrangieren. Seidl tut dies, indem er den Orchesterklang beschneidet. Zunächst einmal erklingen nur ganz kurze Notenwerte, um jede Regung von Seele und Ausdruck im Klang zu unterbinden. Einige der Akkorde, die erklingen, hat Seidl berühmten Werken für Orchester entlehnt. Es entsteht ein Kabinett der Orchesterklänge, wenngleich die Akkorde durch die Verkürzung der Dauern natürlich um ihren möglichen Ausdrucksgehalt beschnitten wurden. Ähnlich verfährt Seidl mit Verfahren und Stilen der neuen Musik, die ebenfalls „gesampelt“ und über kurze Strecken des Werks angewandt werden, darunter mikrotonale und serielle Passagen, Spektralakkorde, 7-, 12- und 24-tönige Skalen. Diese Stile erklingen als Erinnerung, durch die zum einen die Historizität der neuen Musik veranschaulicht, die totale Verfügbarkeit der Stile ausgeführt und die „Gemachtheit“ (Seidl) dieser Musik ausgestellt werden. Mehr als die Hälfte ist mithin ein Werk, in dem mehrere Bedeutungsträger und -ebenen aufeinandertreffen, in dem es um Mehrheiten und Unentbehrlichkeiten geht, um das Orchester als Klang und Geschichte und um das Recht, sich Gehör zu verschaffen – als Einzelner und als Masse.
Björn Gottstein
1
I can hardly remember things. Most names I need to be told several times before knowing them. Every time I want to share things that happened to me with my friends I become unsure if I’ve already told them.
It seems I can barely distinguish between important and unimportant information, between information that can be deleted or can’t. But some mechanisms still decide inside me.
2
During compression of an mp3-File up to 90% of the recorded data are being deleted because the algorithm defines them as redundant or unhearable. As the sum of all information – the reality – is not readable not perceivable, only a small amount seems to be enough, a simplified version, the rest is noise.
I wanted to know how these 90% sound, these usually deleted parts we usually can’t hear so I asked the Experimentalstudio Freiburg to build me an inverted mp3-filter.
3
Mehr als die Hälfte (More than half) is known as a principle of democracy. Decisions are being made on the basis of majorities. Economic “constraints” have distorted this principle down to a pure symbolic function. The proclamation “We Are 99%” by blockupy activists some years ago has been an expression of the feeling of being cut out of decision making. The loud protests from Athens, New York, Madrid or Hamburg have shown the feeling of impuissance, of being subtracted.
4
The orchestra is playing in a monorhythmic structure like a more code where more than half of the sound has been cut out vertically. The Sound is recorded live in a max patch that cuts out all the interruptions and “glues” the sections together again in order to play them back folded into a 6 channel room surrounding the audience. When the audience gets to hear everything without interruptions the sound has been erased by its most important 10% by the described mp3 filter. This way you get to hear everything, but never at the same time.